Herzerforscher-Magazin | Interview
Gut genug!
Volles Leben mit halbem Herzen
Wir erreichen Sabrina telefonisch, nach ihren Semesterklausuren. Ihr Blog „Fragments of Living“ war uns aufgefallen. Sabrina erzählt darin von ihrem Leben „mit halbem Herzen und halber Lungenfunktion“. Die Medizinstudentin aus Münster ist mit einem Hypoplastischen Linksherzsyndrom zur Welt gekommen. In mehreren Operationen haben die Herzchirurgen damals ihr Herz-Lungen-Kreislaufsystem auf einen sogenannten „Fontankreislauf“ umgestellt. Das rettete ihr das Leben. Doch geheilt ist sie nicht.
Herzerforscher-Redaktion: Wie geht es Ihnen, Sabrina, wie sind die Semester-Klausuren gelaufen?
Sabrina: Gut, alles geschafft! Wir können uns übrigens ruhig duzen. So alt bin ich ja noch nicht.
Herzerforscher-Redaktion: Dann drücken wir Dir die Daumen fürs Ergebnis! Und jetzt sind Ferien dran und danach das Physikum?
Sabrina: Jetzt freue ich mich erst einmal auf die Ferien und die Arbeit an meinem Blog. Das Physikum muss vielleicht auch noch ein wenig warten. Ich überlege gerade, ob ich das lieber um ein Semester aufschiebe.
Herzerforscher-Redaktion: Bevor wir gleich in das Thema Lebensqualität einsteigen: Es gibt sicher nicht viele, die Medizin studieren und gleichzeitig engagiert einen eigenen Blog betreiben – noch dazu mit einem schweren angeborenen Herzfehler. Wie bist Du auf die Idee zu „Fragments of Living“ gekommen?
Sabrina: Angefangen habe ich vor ein paar Jahren mit Instagram. Das Vorbild dafür kam aus den USA. Meine Schwester war für ein Schuljahr drüben. Ich habe sie besucht und war vom Austausch in den sozialen Netzwerken beeindruckt. Die Leute unterstützen und ermutigen sich dort einfach viel mehr gegenseitig, gerade in den Communities rund um Themen wie schwere Erkrankungen. Das gehört für mich übrigens auch zur Lebensqualität. Und zurück in Deutschland wollte ich das dann einfach auch mal ausprobieren. Ich habe gedacht, mal schauen. Mein Ziel waren 1.000 Follower. Und dann wurden es plötzlich viel mehr, und ich dachte: Wow, verrückt, das funktioniert ja! Niemand in Deutschland bloggte bis dahin zu angeborenen Herzfehlern.
Wenn ein Arm gebrochen ist, wissen alle, was passiert ist.
Herzerforscher-Redaktion: Warum eigentlich nicht? Immerhin dürfte die Community ja recht groß sein. Eins von hundert Kindern kommt mit einem Herzfehler zur Welt.
Sabrina: Ja, gute Frage. Das hängt glaube ich auch damit zusammen, dass sich Follower, die keinen angeborenen Herzfehler haben, nicht so recht etwas darunter vorstellen können. Wenn ein Arm gebrochen ist, wissen alle, was passiert ist. Auch beim Thema Krebs können viele mitreden. Aber ein Loch im Herzen zu haben oder auch fast kein Herz zu haben, das ist etwas Unbekanntes. Viele meinen ja, Herzprobleme bekommt man erst, wenn man alt wird. Die ältesten Herzpatienten, die ich jetzt kenne, sind gerade mal knapp 50 Jahre! Und mit einem angeborenen Herzfehler hat man auch schnell ein Stigma weg.
Herzerforscher-Redaktion: Wie erlebst Du das? Wie gehen andere Menschen mit Deinem Herzfehler um?
Sabrina: Na ja, eigentlich sieht man mir meinen Herzfehler ja nicht an. Du kannst aber an meiner Stimme hören, dass etwas anders ist bei mir. Allerdings trauen sich die wenigsten nachzufragen. Stattdessen kommen dann so tolle Ratschläge wie „Weniger feiern, trinken und rauchen“. Bei angeborenen Herzfehlern denken außerdem viele noch immer: „Och, das wird korrigiert und dann ist alles wieder okay“. Aber so funktioniert das natürlich nicht. Man ist in vielen Bereichen eingeschränkt und schätzt dann das, was man hat, umso mehr. Und dann wundern sich manche, warum ich schon über drei Tage Ferien in Deutschland mit einer Freundin vor Freude aus dem Häuschen bin, weil sie meinen, man müsste doch mindestens zwei Wochen auf Mallorca, in New York oder L.A. verbringen, um glücklich zu sein. Es gibt allerdings auch das andere Extrem. Da wird einem dann vieles nicht zugetraut oder gar nicht erst zugestanden.
Ich möchte einfach unbedingt eine gute Ärztin werden. Darauf konzentriere ich mich.
Herzerforscher-Redaktion: Zum Beispiel?
Sabrina: Mich hat mal ein Medizinprof gefragt: Sicher, dass Sie Medizin studieren wollen? Sie sind doch schon tot, bevor Sie ihre Zulassung als Ärztin erreichen.
Herzerforscher-Redaktion: Der hat tatsächlich kein Blatt vor den Mund genommen. Wie hast Du darauf reagiert?
Sabrina: Die Frage des Profs kann ich grundsätzlich ja nachvollziehen. Das ist ein Faktor, über den ich natürlich nachdenken muss. Aber die Art und Weise hat bei mir erstmal eine Schockstarre ausgelöst. Ich bin schließlich empört und wütend darüber zu einer Studienberatung gegangen. Die haben sofort gesagt: Das geht gar nicht. Ich hätte dasselbe Recht darauf, Medizin zu studieren wie jeder andere auch. Ich habe mir dann klargemacht, Hey, ich bin genauso viel wert wie andere auch, meine Lebensträume zählen genauso. Ich möchte einfach unbedingt eine gute Ärztin werden. Darauf konzentriere ich mich.
Herzerforscher-Redaktion: Hast Du manchmal die Sorge, Du könntest das Studium nicht schaffen?
Sabrina: Ja, klar beschäftigt mich das. Ich hatte eine Kommilitonin, die auch einen angeborenen Herzfehler hatte und das Studium dann abgebrochen hat. Der Stoff an sich ist weniger ein Problem, aber es ist die verdammte Masse. Und die Frage ist immer, reichen die kognitiven und körperlichen Fähigkeiten aus. Du brauchst einfach eine unfassbar gute Auffassungsgabe. Wenn du so wie ich mit einem Sauerstoffmangel zur Welt kommst, kann es passieren, dass du diese kognitive Kapazität nicht hast. Ich hatte gottseidank immer schon das Glück, dass mein Kopf mehr schafft als mein Körper, aber man sollte die körperliche Anstrengung in diesem Studiengang nicht unterschätzen. Denn auch diese ist immens. Trotzdem sage ich mir inzwischen, ich habe schon ganz andere Sachen bewältigt.
Herzerforscher-Redaktion: Es ist also eher einen körperlicher Kraftakt?
Sabrina: Genau, und vielleicht dauert es dadurch auch etwas länger. Aber ganz ehrlich, viel mehr Angst als davor, meinen Abschluss vielleicht nicht mehr zu erleben, muss ich davor haben, dass mir unterstellt wird, ich sei faul, weil ich mal eine Prüfung nicht bestehe. Mit einem angeborenen Herzfehler passt du einfach nicht in die Landschaft einer Leistungsgesellschaft, die permanent nach Top-Noten und einer Top-Performance fragt.
Damit umzugehen und zugleich selbst nicht zu kurz zu kommen, ist für jedes Familienmitglied eine große Herausforderung.
Herzerforscher-Redaktion: Du sprachst im Zusammenhang mit Deinem Blog von der gegenseitigen Unterstützung und Ermutigung als einem wichtigen Aspekt der Lebensqualität? Was bedeutet Lebensqualität grundsätzlich für Dich?
Sabrina: Oh, ganz große Frage! Zunächst einmal, dass ich meine Lebensträume verwirklichen und möglichst unabhängig das tun kann, was mir Freude macht. Wie zum Beispiel Ärztin werden oder andere Menschen zu ermutigen durch meinen Blog. Das verdanke ich auch den Ärzten, die mir durch mehrere Operationen das Leben gerettet haben und mich bis heute super betreuen. Und natürlich meinen Eltern und Geschwistern.
Herzerforscher-Redaktion: Du hast Dich also immer gut unterstützt gefühlt?
Sabrina: Auf jeden Fall! Meine Familie hat mich immer gefordert und gefördert und gottseidank nie in Watte gepackt. Das ist ja für jedes Familienmitglied eine große Herausforderung, damit umzugehen und zugleich selbst nicht zu kurz zu kommen. Ich denke, Lebensqualität hat vor allem auch mit der eigenen Einstellung zu sich selbst zu tun. Da musste ich selbst ganz viel lernen.
Herzerforscher-Redaktion: Inwiefern?
Sabrina: Ich musste erst herausfinden, dass ich mit meinem angeborenen Herzfehler okay bin, dass das eben mein „gesund“ ist und ich nichts Bestimmtes vorweisen muss, um liebenswert zu sein. Klar kann ich vieles nicht in demselben Maße tun wie Gesunde. Aber ich muss ja auch nicht denselben Marathon oder Sprint laufen. Es sind immer diese Vergleiche, die tückisch sind.
Herzerforscher-Redaktion: Worin liegt aus Deiner Sicht die Krux bei solchen Vergleichen?
Sabrina: Es ist der gängige Irrtum, besonders cool sein zu müssen, um anerkannt zu werden. Da ist man dann permanent im Wettbewerb. Wer hat das Schönere, Bessere und Tollere. Das macht ja auch vor der Herzcommunity nicht Halt. Wer hat die meisten OPs, wer nimmt die meisten Medikamente, wer hat den schwersten Herzfehler? Das führt doch zu nichts. Und wenn du so verschiedene Serien anschaust, gerade als Teenager, dann kriegst du auch die falschen Bilder. Da lächelt dann einer nach einer schweren OP in die Kamera und sieht so aus, als wäre nichts gewesen. Mit 14 oder 15 war mir das so noch nicht klar. Da habe ich mich noch sehr an den anderen gemessen und daran, was andere von mir denken und erwarten könnten.

Du bist der Grund, warum ich nicht aufgegeben habe.
Herzerforscher-Redaktion: Und diese Erfahrungen gibst Du jetzt als Influencerin weiter, wie alt ist Dein Lesepublikum?
Sabrina: Meine Leser sind so alt wie ich oder älter, ich habe auch 14-Jährige, aber vor allem ältere Follower. Ich sehe mich dabei gar nicht so sehr als Influencerin. Irgendwo habe ich mal den schönen Begriff „Sinnfluencerin“ aufgeschnappt, den finde ich in meinem Fall passender. Mein Herzfehler ist dabei auch gar nicht von so zentraler Bedeutung, es gibt so viele ähnlich schwere Erkrankungen. Mir geht es vor allem um grundsätzliche Lebensfragen, die uns alle beschäftigen. Wir haben alle die ähnlichen Gedanken. Nur meist ist der Auslöser ein anderer.
Herzerforscher-Redaktion: Wie kommt das an, wie reagiert Dein Publikum?
Sabrina: Ich erhalte ganz viel positives Feedback. Viele berichten mir dann von ihren eigenen Erfahrungen und bedanken sich für meine Anregungen. Am Anfang war ich überwältigt davon. Da schrieb mir zum Beispiel ein Vater aus England kurz vor der dritten Fontan-OP seines Sohns: „Du bist der Grund warum ich nicht aufgegeben habe“. Da wurde mir eigentlich erst so richtig bewusst, was für eine riesige Verantwortung ich habe.
Herzerforscher-Redaktion: Worin genau liegt für Dich diese Verantwortung?
Sabrina: Ich spreche im Blog sehr offen an, was mich beschäftigt. Dazu zählt das Thema Sterben genauso wie das Thema psychische Erkrankungen. Das sind natürlich sensible Bereiche. Das moderiere ich dann auch so an, dass meine Follower selbst entscheiden können, ob sie sich damit auseinandersetzen wollen oder nicht. Klar, ich kann keine Verantwortung dafür übernehmen, wie es dem anderen geht. Aber wir streben alle danach glücklich zu sein und mit uns okay zu sein. Und wenn mein Umgang mit gewissen Themen andere zu einem positiven Umgang mit sich und dem eigenen Körper animieren kann, dann freut mich das einfach. Mir ist vor allem wichtig, dass sich andere willkommen fühlen so wie sie sind. Insofern stehe ich gerne für das, was viele heute als Bodypositivity bezeichnen.
Herzerforscher-Redaktion: Du klingst jetzt heiserer als vorhin und etwas aus der Puste. Sagst Du Bescheid, wenn wir eine Pause machen sollen?
Sabrina: Ja, natürlich, keine Sorge! Das hängt mit meiner Stimmbandlähmung und meiner Lungenfunktion zusammen. Mein Kopf ist wie gesagt immer etwas schneller als mein Körper. Alles okay!
Wenn einer nach einer solchen OP keinen psychischen Knacks hat, ist etwas schiefgelaufen.
Herzerforscher-Redaktion: Welche Rolle spielen aus Deiner Sicht psychische Probleme, gerade bei schweren angeborenen Herzfehlern? Wie sehr beeinträchtigen sie die Lebensqualität?
Sabrina: Ich würde mal sagen, eine ganz zentrale Rolle. Wenn einer nach einer solchen OP keinen psychischen Knacks hat, ist etwas schiefgelaufen.
Herzerforscher-Redaktion: Weil so eine OP Angst macht und man sich auch erst einmal elend fühlt danach?
Sabrina: Nein, als Säugling spürt man zwar sicher, dass da etwas mit einem passiert, aber das kriegst du natürlich so bewusst noch nicht mit. Und danach war ich ja nur von gesunden Kindern umgeben. Mit sechs Jahren kannst du deinen Freunden schwer erklären, dass du zwar vollkommen gesund aussiehst, aber einen angeborenen Herzfehler hast. Und irgendwann stellst du fest, mit deinem Herzfehler bist du alleine. Kein „gesunder“ Mensch kann wissen, wie das ist.
Herzerforscher-Redaktion: Was macht das mit einem?
Sabrina: Das macht auch Angst. Deswegen ist der Austausch mit anderen Herzpatienten so wichtig. Später kannst du hoffentlich darüber reden und andere hören dir zu. Aber mit 15 ist das noch nicht wirklich dein Gesprächsstoff. Da versuchst du vor allem, dich an deine Leute anzupassen. Da willst du einfach mithalten und dazu gehören. Damals hatte ich noch nicht das Bewusstsein, dass ich so einzigartig bin wie jeder andere Mensch auch. Da hatte ich auch noch nicht die Stärke zu sagen, ich bin glücklich mit mir so wie ich bin.
Ich kümmere mich um mein Herz, um zu leben. Aber ich lebe nicht, um mich um mein Herz zu kümmern.
Herzerforscher-Redaktion: Wie hast Du diese Stärke für Dich entdeckt?
Sabrina: Da gab es keinen bestimmten Anlass, das hat sich entwickelt. Ich bin heute 20 Jahre und körperlich geht es mir schlechter als mit 18. Zu meinen Abi-Zeiten konnte ich noch richtig Party machen. Das geht so heute nicht mehr. Ich kann dem hinterher trauern, aber das bringt mich nicht weiter. Ich kann dagegen antrainieren, aber ist es mir die drei Stunden am Tag wirklich wert? Sicher, ich richte meinen Tag nach meiner Krankheit aus – das fällt mit zugegeben in den Ferien leichter als im Unialltag. Aber ich kümmere mich um Medikamente, Physiotherapie und Sport, um zu leben. Ich lebe nicht, um mich um mein Herz zu kümmern.
Herzerforscher-Redaktion: Was bedeutet das konkret für Dich?
Sabrina: Ich passe mein jeweiliges „normal“ oder „gesund“ an meinen Körper an. Ich lebe intensiver im Jetzt, ich nehme schon kleine Dinge als große Freude wahr. Ich plane nicht ewig weit voraus.
Herzerforscher-Redaktion: Du verfolgst aber doch auch langfristige Ziele?
Sabrina: Natürlich habe ich Ziele, Ideen und Träume. Ich will Ärztin und mindestens 50 oder 60 Jahre alt werden. Warum auch nicht? Aber wenn ich sage, ich plane, in fünf oder zehn Jahren dies oder das zu tun, ergibt das keinen Sinn. Also nicht, dass Ihr jetzt einen Schreck bekommt. Aber für mich ist die Frage „Möchte ich mal Kinder bekommen, oder bin ich vorher tot?“ so normal wie für andere die Frage „Backe ich heute einen Kuchen“. Und dann möchte ich doch einfach das beste Leben leben, das mir möglich ist.
Herzerforscher-Redaktion: Wie gelingt Dir das? Du sprachst vorhin von den Top-Leistungen, die heute überall erwartet werden. Solche Anforderungen erzeugen ja auch Druck.
Sabrina: Ich mache einfach das, was mir Spaß macht. Das gibt mir Kraft, auch mit diesem Druck fertig zu werden. Das klappt natürlich nicht immer. Aber ich frage mich heute eher: Wie kann ich bewältigen, was ich mir vorgenommen habe? Und nicht: Bin ich gut genug? Na klar bin ich gut genug! Und das zu tun, was mir am meisten Freude macht, das spornt mich an.
Herzerforscher-Redaktion: Sabrina, wir danken Dir für das Gespräch.
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Zur Person
Sabrina und ihr Blog
© Nationales Register | fragments of living
Sabrina unterstützt das Nationale Register. Sabrina studiert in Münster Humanmedizin. Von klein auf ist sie Teilnehmerin des Nationalen Registers. Mit achtzehn hat sie sich dafür entschieden, ihre Teilnahme zu bestätigen und die Erforschung angeborener Herzfehler auch langfristig zu unterstützen. Ihren Blog Fragments of Living finden Sie hier.
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