Bildung, Ausbildung und Beruf
Bildungshürden bei angeborenem Herzfehler und Trisomie 21
Psychische Beeinträchtigungen sind ein Schlüsselfaktor
Wissenschaftlicher Name der Studie
New Insights into the Education of Children with Congenital Heart Disease with and without Trisomy 21
Im Rahmen einer neuen Studie am Kompetenznetz Angeborene Herzfehler wurden junge Patientinnen und Patienten mit angeborenem Herzfehler zu ihrer Schullaufbahn befragt. Dabei stellte sich heraus, dass jedes dritte Vorschulkind mit angeborenem Herzfehler unter psychischen Beeinträchtigungen litt. Bei den teilnehmenden Kindern mit angeborenem Herzfehler und Trisomie 21 war dies sogar bei weit über 80 Prozent der Fall.
„Der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit angeborenen Herzfehlern muss dringend mehr Beachtung geschenkt werden, sowohl in der Forschung als auch durch regelmäßige Nachuntersuchungen in der Praxis sowie durch eine entsprechende individuelle Förderung“, sagt Ulrike Bauer, Geschäftsführerin des Kompetenznetz Angeborene Herzfehler und des Nationalen Registers für angeborene Herzfehler.
In der Regel gut in der Schule
Kinder mit angeborenen Herzfehlern halten in der Regel in der Schule gut mit herzgesunden Gleichaltrigen mit, teilweise bis zum Abitur. Ihre schulische Entwicklung ist jedoch kein Selbstläufer. „Es gibt große Unterschiede. Wir wissen, dass sowohl das körperliche Wachstum als auch die kognitive und psychosoziale Entwicklung von Kindern mit angeborenem Herzfehler stark beeinträchtigt sein können. Ein schwerer angeborener Herzfehler und eine Trisomie 21 begünstigen solche Entwicklungsverzögerungen“, erläutert Katharina Schmitt vom Deutschen Herzzentrum Berlin (DHZC). Die Kinderkardiologin ist seit November 2023 die bundesweit erste W3-Professorin für Entwicklungspädiatrie in der Herzmedizin.
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Gut zu wissen
Bildungsnachteile lassen sich meist ausgleichen
Nach einer repräsentativen Befragung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Nationalen Registers für angeborene Herzfehler im Jahr 2017 erreichten 45,7 Prozent der Kinder mit angeborenem Herzfehler das Abitur. Selbst von den Patientinnen und Patienten mit schweren angeborenen Herzfehlern erreichten 35,1 Prozent die Hochschulreife, bei leichten Herzfehlern waren es 57,3 Prozent und bei mittelschweren immerhin noch 47,5 Prozent. Das entsprach in etwa dem damaligen Bundesdurchschnitt.
„Der Vergleich mag etwas hinken“, ordnet Paul Helm, Psychologe am Nationalen Register, die Studienergebnisse ein, „denn bei einer Befragung, die auf freiwilliger Teilnahme beruht, sind mögliche Verzerrungseffekte nie ganz auszuschließen.“ Dennoch seien die Ergebnisse belastbar und vor allem ermutigend. „Sie zeigen, dass eine erfolgreiche Schullaufbahn unabhängig vom Schweregrad des Herzfehlers grundsätzlich möglich ist“, so Paul Helm. „Die hohe Abiturientenquote spricht vor allem auch dafür, dass eine gezielte individuelle Förderung Bildungsnachteile ausgleichen kann, die bei angeborenen Herzfehlern zum Beispiel durch Klinik- und Reha-Aufenthalte, aber auch durch krankheitsbedingte Entwicklungsverzögerungen entstehen.“
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Wie sich diese Beeinträchtigungen auf die Schullaufbahn auswirken, hat ein interdisziplinäres Forscherteam jetzt erstmals umfassend untersucht. „Für die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten sind unsere Erkenntnisse entscheidend, um frühzeitig und gezielt eingreifen und fördern zu können“, sagt DHZC-Fachärztin Constanze Pfitzer, die das Projekt mit verantwortete.
Daten von 2.783 Registerteilnehmenden
Für die erste umfängliche Studie zur Bildungsentwicklung von Patientinnen und Patienten mit angeborenem Herzfehler mit und ohne Trisomie 21 haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Daten von insgesamt 2.873 Patientinnen und Patienten im Alter zwischen 14 und 19 Jahren untersucht.
Insgesamt 32,1 Prozent der in die Studie eingeschlossenen Patientinnen und Patienten hatten nach Warnes-Klassifikation einen einfachen angeborenen Herzfehler. 36,9 Prozent waren von einem mittelschweren und 31 Prozent von einem schweren angeborenen Herzfehler betroffen. Zu den häufigsten angeborenen Herzfehlern zählten Ventrikelseptumdefekte (24,9 Prozent) und Vorhofseptumdefekte (10,9 Prozent).
Herzfehler können Schullaufbahn beeinträchtigen
Bei 109 Teilnehmenden lag die Diagnose einer Trisomie 21 vor. Die genetisch bedingte Erkrankung, die bei weit über einem Drittel der Betroffenen mit einem angeborenen Herzfehler einhergeht, gilt als häufigste Ursache für kognitive Beeinträchtigungen und Lernschwierigkeiten.
Neben medizinischen Daten haben die Forschenden die Antworten aus zwei großen Befragungen zum Thema Schule und Ausbildung unter Teilnehmenden des Nationalen Registers ausgewertet. Dabei berücksichtigten sie auch den Bildungshintergrund der Eltern. „Die Ergebnisse unserer Studie belegen, dass angeborene Herzfehler ein erhöhtes Risiko für eine beeinträchtigte schulische Entwicklung darstellen, und zwar besonders dann, wenn der Herzfehler mit einer syndromalen Grunderkrankung wie der Trisomie 21 vergesellschaftet ist“, so Constanze Pfitzer
Nur jedes neunte Kind mit Trisomie 21 besucht reguläre Grundschule
Nur 11 Prozent der Kinder mit angeborenem Herzfehler und einer Trisomie 21 besuchten eine reguläre Grundschule. Demgegenüber war es bei allen anderen Kindern mit angeborenem Herzfehler mit 87,1 Prozent die überwiegende Mehrheit. Integrationsklassen besuchten 32,1 Prozent der Kinder mit angeborenem Herzfehler und einer Trisomie 21, jedoch nur 2,9 Prozent der Kinder mit angeborenem Herzfehler ohne Trisomie 21.
Geringfügige Altersunterschiede bei Einschulung und Schulübergang
Beide Gruppen wurden im Alter zwischen sechs und sieben Jahren eingeschult. Kinder mit angeborenem Herzfehler und einer Trisomie 21 begannen ihre Schullaufbahn allerdings geringfügig später. Mit 89 Prozent startete der überwiegende Teil dieser Patientengruppe an einer Schule mit sonderpädagogischem Schwerpunkt.
Etwa 4 Jahre später, im Alter zwischen zehn und elf Jahren, besuchten die Kinder beider Gruppen eine weiterführende Schule, wobei Kinder mit Trisomie 21 beim Schulübergang mit im Durchschnitt fast 11 Jahren etwas älter waren.
Nur eins von acht Kindern mit Trisomie 21 schafft es auf eine weiterführende Schule
37,5 Prozent der Kinder mit angeborenem Herzfehler ohne Trisomie 21 besuchten ein Gymnasium und 6,5 Prozent eine Förderschule. Im Gegensatz dazu besuchten nur 1,8 Prozent der Kinder mit angeborenem Herzfehler und einer Trisomie 21 ein Gymnasium.
Der Anteil der Schülerinnen und Schüler in dieser Gruppe, die sonderpädagogisch unterrichtet wurden, lag dagegen achtmal so hoch wie bei den Kindern mit angeborenem Herzfehler ohne Trisomie 21. Auch besuchte von den Kindern mit angeborenem Herzfehler und einer Trisomie 21 nur etwa jedes achte (12,8 Prozent) eine weiterführende Schule.
Besonderer Förderbedarf
Für 78 Prozent der Kinder mit Trisomie 21 gaben die befragten Sorgeberechtigten an, dass sie seit ihrem Schuleintritt aufgrund etwa von spezifischen Lernbehinderungen mindestens drei Monate lang sonderpädagogisch betreut wurden. In der Gruppe der Kinder mit angeborenem Herzfehler ohne Trisomie 21 dagegen war das nur bei 28,4 Prozent der Fall. Zugleich zeigte sich, dass mit zunehmendem Schweregrad des angeborenen Herzfehlers seltener Grundschulen und Gymnasien und häufiger Förderschulen besucht wurden.
Kinder mit schweren angeborenen Herzfehlern benötigten häufiger Fördermaßnahmen und hatten längere Fehlzeiten in der Schule. „Die Studie zeigt, dass eine mögliche Entwicklungsverzögerung bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler oftmals mit einer syndromalen Grunderkrankung wie einer Trisomie 21 zu erklären ist. Das unterstreicht die Wichtigkeit einer frühzeitigen und über die reine medizinische Versorgung hinausgehenden multidisziplinären Förderung. Wichtiges Ziel muss die soziale Integration, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung im erwachsenen Alter sein“, betont Professorin Katarina Schmitt.
Bildungsstand der Eltern beeinflusst schulische Förderung
Dabei spielt auch der Bildungsstand der Eltern eine Rolle. Zwar wurden Frühfördermaßnahmen ähnlich intensiv von allen Kindern mit angeborenen Herzfehlern in Anspruch genommen. Der Anteil der Kinder an Regelschulen und die Inanspruchnahme inklusiver Beschulungsformen jedoch stiegen mit dem Bildungsgrad der Eltern.
Das gilt auch für den Besuch eines Gymnasiums. Hier zeigten sich Kinder von Eltern mit einem höheren Bildungsabschluss deutlich im Vorteil. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler in Gymnasialausbildung lag in dieser Gruppe bei 46,1 Prozent, bei Eltern mit einem mittleren Bildungsniveau dagegen waren es 36,2 Prozent und bei Eltern mit einem niedrigeren Bildungsniveau nur noch 25,5 Prozent.
„Bildungschancen sind in Deutschland noch immer eine Frage des Einkommens und des Bildungsstandes der Eltern. Dieser Missstand ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich belegt. Unsere Studie bestätigt das in der Tendenz auch für Kinder mit angeborenem Herzfehler“, beobachtet Diplompsychologe Paul Helm vom Nationalen Register. Den gemessen am Bundesdurchschnitt ähnlichen Anteil an Herzkindern, die ein Gymnasium oder eine andere weiterführende Schule besuchen, führen die Forschenden unter anderem darauf zurück, dass Kinder mit angeborenem Herzfehler häufiger gefördert werden als herzgesunde Gleichaltrige.
Bildungsgerechtigkeit herstellen
„Wir lesen das als Hinweis darauf, dass durch eine frühzeitige vorschulische Förderung mehr Bildungsgerechtigkeit hergestellt werden kann,“ so Paul Helm. Durch die Früherkennung von kognitiven und psychischen Handicaps und eine entsprechende Frühförderung ließen sich die Chancen auch von Kindern mit schwerem angeborenem Herzfehler und syndromaler Grunderkrankung auf ein bestmögliches Ausbildungsniveau und Erfolge im Berufsleben sowie auf soziale Integration und ein weitgehend unabhängiges Leben erhöhen, sind die Forschenden überzeugt.
Mentale Gesundheit ist ein Schlüsselfaktor
Auffällig war der hohe Anteil an Kindern mit psychischer Beeinträchtigung. Dies gaben die Befragten für rund ein Drittel aller eingeschlossenen Patientinnen und Patienten (33,3 Prozent) an. Davon besonders betroffen waren Kinder mit angeborenem Herzfehler und Trisomie 21. Mit 82,6 Prozent (gegenüber 31,4 Prozent der Herzkinder ohne Trisomie 21) zeigten sich in dieser Gruppe deutlich häufiger Verzögerungen der sprachlichen, geistigen und motorischen Entwicklung sowie Lernstörungen, soziale und emotionale Beeinträchtigungen.
Angststörungen, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrome (ADHS) sowie Depressionen wurden vor allem für die Gruppe der Patienten ohne Trisomie 21 angegeben, zeigten sich jedoch in anderen Studien besonders auch bei Trisomie 21-Patientinnen und -Patienten. Die Hälfte der Teilnehmenden der Studie nahm bereits vor Schuleintritt unterstützende Maßnahmen wie eine Sprach- und Ergotherapie, eine Physiotherapie oder eine Psychotherapie in Anspruch. Kinder mit angeborenem Herzfehler und einer Trisomie 21 waren deutlich häufiger darauf angewiesen.
Fachübergreifende Nachbetreuung erforderlich
Aus Sicht der Forschenden sprechen die Studienergebnisse für die Notwendigkeit einer ganzheitlichen und fachübergreifenden medizinischen Versorgung für Kinder mit angeborenem Herzfehlern „Bei regelmäßigen Kontrolluntersuchungen sollten auch neurologisch, psychologisch und psychiatrisch ausgebildete Kolleginnen und Kollegen sowie Ergo- und Physiotherapeuten zu Rate gezogen werden, um Entwicklungsverzögerungen und psychische Beeinträchtigungen rechtzeitig zu erkennen und frühzeitig mit gezielten Maßnahmen entgegensteuern zu können“, rät Professorin Katharina Schmitt.
Auf diese Weise ließe sich die Langzeitprognose und Lebensqualität der Betroffenen deutlich verbessern. Zudem könnte das den Zugang auch von Kindern mit schwerem angeborenem Herzfehler und Trisomie 21 zu einer Schullaufbahn erleichtern, die ein selbstbestimmteres Leben ermögliche.
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Wissenschaftliche Details der Studie
Erfahren Sie mehr über das Studiendesign, die Materialien und Methoden sowie den Hintergrund der Studie:
Publikationen
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14.11.2023
New Insights into the Education of Children with Congenital Heart Disease with and without Trisomy 21.
Schmitt KRL, Sievers LK, Hütter A, Abdul-Khaliq H, Poryo M, Berger F, Bauer UMM, Helm PC, Pfitzer C
Medicina (Kaunas, Lithuania) 59, 11, (2023). Diese Publikation bei PubMed anzeigen.
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