Zwischen angeborenen Herzfehlern und einer verringerten körpereigenen Abwehr von Krankheitserregern besteht ein Zusammenhang., iStockphoto.com | filadendron © iStockphoto.com | filadendron

Medizin und Versorgung

Tödliche Gefahr: Immunschwäche bei angeborenen Herzfehlern

Neue Studie deutet auf ein unterschätztes Phänomen hin

Wissenschaftlicher Name der Studie

Immunodeficiency is prevalent in congenital heart disease and associated with increased risk of emergency admissions and death

Die Herzmedizin hat in den vergangenen 60 Jahren enorme Fortschritte gemacht. Durch die Verbesserung der chirurgischen und interventionellen Eingriffe ist die Überlebensrate von Kindern mit angeborenen Herzfehlern enorm angestiegen: Mehr als 90 Prozent der Betroffenen erreichen das Erwachsenenalter. Doch nur eine Minderheit kann als geheilt betrachtet werden.

Geschwächte Abwehr

Neben mittelschweren und schweren angeborenen Herzfehlern können auch leichte angeborene Herzfehler eine Vielzahl von Folgeschäden und Komplikationen nach sich ziehen, die nicht nur das Herz betreffen. Dass dabei auch das körpereigene Immunsystem beeinträchtigt sein kann, war bislang vor allem für genetisch bedingte syndromale Erkrankungen wie beispielsweise das DiGeorge-, das Down- oder das CHARGE-Syndrom bekannt.

Eine neue Studie auf Basis der Versorgungsdaten der Barmer Krankenversicherung zeigt, dass weitaus mehr Patientinnen und Patienten mit angeborenen Herzfehlern (AHF) unter einer eingeschränkten Körperabwehr leiden als bislang angenommen. Mehr noch: Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sie damit auch anfälliger für lebensbedrohliche Komplikationen sind.

Daten von 54.449 AHF-Patienten untersucht

Ein Forscherteam um Professor Gerhard-Paul Diller, leitender Oberarzt am EMAH-Zentrum des Universitätsklinikum Münster (UKM), hatte dazu die Diagnosen und Medikamentenverordnungen von insgesamt 54.449 Patientinnen und Patienten mit angeborenen Herzfehlern untersucht, die zwischen 2005 und 2020 ambulant oder stationär behandelt worden waren, und sie mit den Daten herzgesunder Versicherter der jeweils selben Altersgruppe und des jeweils selben Geschlechts verglichen. Ausgenommen waren Menschen mit einer Autoimmunerkrankung.

Risiko bei AHF fast doppelt so hoch

Bei 5,6 Prozent der AHF-Patientinnen und -Patienten war ein Immundefekt (ID) festgestellt worden, und zwar quer über das Spektrum an leichten, mittelschweren und schweren angeborenen Herzfehlern hinweg. In der herzgesunden Vergleichsgruppe dagegen war dies nur bei 2,9 Prozent der Fall.

Das Ergebnis hat die Forschenden überrascht: „Zwar war zu vermuten, dass Immundefekte mit verantwortlich sind für das bei angeborenen Herzfehlern erhöhte Risiko, frühzeitig an einer Folgeerkrankung oder Komplikation zu versterben. Dass das Risiko einer Immunschwäche bei angeborenen Herzfehlern im Vergleich mit der Allgemeinbevölkerung beinahe doppelt so hoch ist, damit hatten wir nicht gerechnet. Bei 27,5 Prozent der AHF-Patientinnen und -Patienten wurden zudem auffällig häufig Infekte diagnostiziert. Hier sollte daher dringend genauer nachgeforscht werden, ob möglicherweise eine Immunschwäche vorliegt“, sagt Gerhard-Paul Diller.

  • Gut zu wissen

    Wie funktioniert unser Immunsystem?

    Antikörper greifen Viruszellen in der Blutbahn an. © iStockphoto.com | Christoph Burgstedt
    Antikörper greifen Viruszellen in der Blutbahn an.

    Unser körpereigenes Abwehrsystem funktioniert nach einem ausgeklügelten Prinzip. Zum Schutz unseres Körpers vor Schadstoffen und Krankheitserregern arbeiten verschiedene Organe, unterschiedliche Zellen und Stoffe präzise wie ein Uhrwerk zusammen. Sie bilden gemeinsam eine Art Körperpolizei.

    Im Knochenmark werden die Abwehrzellen (B-Zellen, T-Zellen und die so genannten Fresszellen, Makrophagen) gebildet. Im Thymus reifen in jungen Jahren die T-Zellen heran. Die Lymphknoten schleusen Erreger und schädliche Stoffe aus dem Körper. Sie sind durch die Lymphgefäße verbunden und können bei Abwehrreaktionen anschwellen. Die Milz filtert Antigene aus dem Blut, die mit den B- und T-Zellen in der Milz reagieren und Autoimmunreaktionen auslösen können. Außerdem speichert sie verschiedene Abwehrzellen und entsorgt nicht mehr funktionsfähige Blutzellen. Gaumen-, Rachen- und Zungenmandeln machen Krankheitserreger unschädlich, die durch den Mund eindringen. Haut und Schleimhäute übernehmen wichtige erste Abwehrfunktionen und bilden so eine erste Barriere.

    Manche Schutzmechanismen sind angeboren, andere werden erlernt, denn im Laufe unseres Lebens muss der Körper einer Vielzahl von Angreifern standhalten, zu denen immer wieder neue hinzukommen können.

    Unsere Körperpolizei lernt dazu

    Wenn das angeborene Immunsystem auf einen ihm noch unbekannten Erreger trifft, kommt das erworbene Immunsystem mit seinen Abwehrzellen ins Spiel. Die B-Zellen können Antikörper bilden. Die T-Zellen können Angreifer zerstören und weitere Abwehrzellen alarmieren. Dabei helfen dem erworbenen Immunsystem Zellen und Signalstoffe des angeborenen Immunsystems, die durch die Eindringlinge angelockt und angeregt werden. Die Zellen aus den weißen Blutkörperchen fungieren zusammen mit Signalstoffen als Erkennungsdienste und Alarmsysteme. Sie identifizieren die Übeltäter, informieren die Abwehrzellen des erworbenen Immunsystems und signalisieren diesen, die Schädlinge anzugreifen. Die Überreste der zerstörten Krankheitserreger werden dann von den Fresszellen des angeborenen Immunsystems beseitigt.

    Das erworbene Immunsystem arbeitet zwar langsamer als das angeborene Immunsystem. Dafür lernt es dazu. B-Zellen und T-Zellen merken sich, wenn sie auf einen neuen Erreger treffen. Sie speichern den Übeltäter gleichsam in einer Art Fahndungsdatei ab und warnen das Immunsystem damit vor. Greift der Übeltäter wiederholt an, kann eine T-Zelle den Krankheitserreger ohne erkennungsdienstliche Hilfe des angeborenen Immunsystems sofort zerstören und andere Abwehr-Zellen dazu anregen. B-Zellen bilden dann sofort ganz viele Antikörper.

    Ohne Kommunikation geht gar nichts

    Es ist im Grunde wie in unserem Alltagsleben. Ohne Kommunikation, ohne Austausch von verlässlichen Informationen funktioniert auch in unserem Körper nichts. Auch hier wird keinesfalls nur eine Sprache gesprochen. Unter den beteiligten Zellen und Stoffen muss vieles übersetzt werden. Hinter alldem stecken vielfältigste biochemische Prozesse und auch unser Erbgut spielt eine entscheidende Rolle. Fällt etwas davon aus, und sei es nur, dass ein winziger Teil einer wichtigen Nachricht fehlt oder nicht richtig übersetzt wurde, bricht die Körperabwehr zusammen.

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Atemwegserkrankungen dominieren

Bei 74,3 Prozent der AHF-Patientinnen und -Patienten mit einem Immundefizit war ein Mangel an Antikörpern dokumentiert worden. Vergleichsweise selten waren dagegen Immundefekte, die auf eine Störung von Zellen in den weißen Blutkörperchen zurückgehen.

Bei den diagnostizierten Erkrankungen handelte es sich vor allem um Infektionen der Atemwege. Bronchitis, Lungenentzündung, Nasennebenhöhlenentzündung und Mittelohrentzündung standen mit 68,5 Prozent im Vordergrund.

In 41,7 Prozent der untersuchten Fälle erforderten die Infektionen eine wiederholte oder verlängerte Behandlung mit Antibiotika. Wiederkehrende Pilzinfektionen der Mundschleimhaut waren mit 9,1 Prozent die zweithäufigste Diagnose, die auf eine Immunschwäche hindeutet.

  • Gut zu wissen

    Was sind Immundefekte?

    Zwischen angeborenen Herzfehlern und einer verringerten körpereigenen Abwehr von Krankheitserregern besteht ein Zusammenhang. © iStockphoto.com | filadendron
    Zwischen angeborenen Herzfehlern und einer verringerten körpereigenen Abwehr von Krankheitserregern besteht ein Zusammenhang.

    Bei Immundefekten handelt es sich um eine Gruppe von über 400 verschiedenen Erkrankungen, die das menschliche Immunsystem unterschiedlich beeinträchtigen. Sie können zu wiederkehrenden Infektionen und lebensbedrohliche Komplikationen führen und damit sowohl die Lebensqualität als auch die Überlebenschancen massiv einschränken. Angeborene, genetisch bedingte Immundefekte sind in der Allgemeinbevölkerung selten. Nach aktuellem Forschungsstand leidet einer von 1.200 Menschen darunter. Am häufigsten sind Immundefekte, die auf einen Mangel an Antikörpern zurückgehen und verstärkt im dritten und vierten Lebensjahrzehnt auftreten.

    Wie lassen sich Immundefekte behandeln?

    Die Fortschritte auf dem Gebiet der Immunologie helfen zunehmend, Lebensqualität und Überlebenschancen von Betroffenen zu verbessern. Zu den therapeutischen Maßnahmen zählen die vorsorgliche Behandlung mit Antibiotika, die stationäre Behandlung von Infekten in isolierter, keimfreier Umgebung, Medikamente, die gezielt das Immunsystem anregen, die Immunglobulin-Therapie zur Unterdrückung von Autoimmunreaktionen und die rechtzeitige Transplantation von blutbildenden Stammzellen (weiße Blutkörperchen) aus dem Knochenmark eines gesunden Menschen. Solche Maßnahmen könnten auch betroffenen Patientinnen und Patienten mit angeborenen Herzfehlern zugutekommen.

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Lebensbedrohliche Risikofaktoren

Dabei spielten das DiGeorge-, das Down- oder das CHARGE-Syndrom eine vergleichsweise geringe Rolle, wie Gerhard-Paul Diller hervorhebt: „Nur 0,19 Prozent der Patientinnen und Patienten mit einer diagnostizierten Immunschwäche waren vom DiGeorge-Syndrom betroffen. Auch waren die mit diesem Syndrom häufig einhergehenden Herzfehlbildungen wie beispielsweise eine TGA in dieser Gruppe deutlich seltener vertreten als in der Gruppe, bei der keine Immunschwäche festgestellt worden war. Weitaus häufiger lagen ein Persistierender Ductus arteriosus Botalli (PDA), ein Ventrikelseptumdefekt (VSD), ein nicht korrigierter Herzfehler oder ein Einkammerherz vor.“

Besorgt zeigen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem vom Ergebnis ihrer tiefergehenden Risikoanalyse. „Sowohl eine Immunschwäche als auch häufig wiederkehrende Infekte stellten sich als erhebliche Risikofaktoren für Menschen mit angeborenen Herzfehlern heraus“, berichtet Studienautorin Alicia Fischer. „Beides führte, unabhängig von den bekannten Risiken durch Folgeerkrankungen, Reoperationen und altersbedingte extrakardiale Erkrankungen, vermehrt zu Notfalleinweisungen und auch zu Todesfällen“, so die Kardiologin am EMAH-Zentrum des UKM.

Kinder und Männer häufiger betroffen?

Bei Kindern mit angeborenen Herzfehlern zeigte sich mit 8,7 Prozent deutlich häufiger eine Immunschwäche als bei Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern (2,7 Prozent). Wiederkehrende Infekte wurden bei 43,1 Prozent der Kinder festgestellt. In der Gruppe der erwachsenen Patientinnen und Patienten dagegen war das nur bei 8,7 Prozent der Fall.

Zudem fiel statistisch gesehen der Anteil der männlichen AHF-Patienten, die von einem Immunschwächesyndrom (ID) und einer größeren Infektanfälligkeit (ISI) betroffen waren, höher aus als in der Gruppe der Nichtbetroffenen mit angeborenen Herzfehlern.

„Zwar ist eine erhöhte Infektanfälligkeit bei Kindern für sich genommen nichts Ungewöhnliches. Das erworbene Immunsystem lernt dazu. Mit fortschreitendem Alter gehen daher die Infekte in der Regel zurück. Dass jedoch bei jungen Patientinnen und Patienten auch häufiger ein Immunschwächesyndrom festgestellt wurde, wirft Fragen auf, die unbedingt tiefergehend erforscht werden müssen. Das könnte auch mit Fortschritten in der ID-Diagnostik zusammenhängen. Es wäre also möglich, dass eine Immunschwäche in der Gruppe der Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern häufiger unentdeckt blieb,“ ordnet Studienautorin Professorin Astrid Lammers die Ergebnisse ein.

Auch lasse sich aus dem erhöhten Anteil männlicher Patienten mit dieser Diagnose nicht ohne weiteres der Schluss ziehen, dass Mädchen und Frauen seltener von einer Immunschwäche betroffen seien, so die Kinderkardiologin am UKM.

Weitere Forschung dringend erforderlich

„Aus verschiedenen Studien wissen wir beispielsweise, dass das Immunsystem von heranwachsenden und erwachsenen Männern hormonell bedingt anders reagiert. Testosteron und Östrogene modulieren die Reaktion des Immunsystems. Dadurch verlaufen Infekte bei Männern und Frauen möglicherweise unterschiedlich. Die Ergebnisse zeigen uns insgesamt, dass wir der Immunschwäche bei angeborenen Herzfehlern tiefer auf den Grund gehen müssen“, betont die EMAH-Spezialistin. Dabei müsse sowohl unter genderspezifischen als auch unter genetischen Gesichtspunkten untersucht und geforscht werden. „Mit einem Immunschwächesyndrom werden mittlerweile mehr als 350 genetische Defekte in Verbindung gebracht.“

Wachsamer sein

Eins zeigt die Studie deutlich: Eine Immunschwäche ist bei angeborenen Herzfehlern ein ernst zu nehmendes Risiko. Die Forschenden empfehlen daher das ID-Screening in die ärztliche Nachsorgeroutine aufzunehmen. Dieses umfasst unter anderem Fragen nach der Häufigkeit von Infektionen innerhalb eines Jahres, dem Auftreten von schweren Nasennebenhöhleninfektionen, Lungenentzündungen, tiefen Haut- oder Organabszessen und durch Soor, Pilze der Gattung Candida, verursachten Infektionen der Haut sowie Fragen zum familiären Vorkommen von Immunschwächesyndromen oder zu wiederkehrenden längeren Behandlungen mit Antibiotika.

Bei Verdacht auf einen Immundefekt sollte dann eine Überweisung an immunologische Spezialisten erfolgen. „Auch wenn eine Infektion für sich genommen unauffällig sein mag. Treten bei einer Patientin oder einem Patienten mit angeborenem Herzfehler häufiger Infektionen auf, kann dies auf eine bisher nicht diagnostizierte Immunschwäche hindeuten. Wir müssen hier wachsamer sein und zugleich verstärkt mit unseren auf Immunerkrankungen spezialisierten Fachkolleginnen und Fachkollegen zusammenarbeiten, um rechtzeitig geeignete Therapiemaßnahmen eingreifen zu können“, fasst Gerhard-Paul Diller zusammen.

  • Wissenschaftliche Details zur Studie

    Erfahren Sie mehr zum Studiendesign, den Materialien und Methoden, sowie zu den Hintergründen der Studie:

    Publikationen

    • 7.2.2023

      Immunodeficiency is prevalent in congenital heart disease and associated with increased risk of emergency admissions and death.

      Diller GP, Lammers AE, Fischer A, Orwat S, Nienhaus K, Schmidt R, Radke RM, De-Torres-Alba F, Kaleschke G, Marschall U, Bauer UM, Roth J, Gerß J, Bormann E, Baumgartner H

      European heart journal, (2023). Diese Publikation bei PubMed anzeigen.


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