EMAH-Sprechstunde beugt Risiken vor., Wolfram Scheible für Nationales Register © Wolfram Scheible für Nationales Register

Medizin und Versorgung

Lückenhafte Nachsorge

Studie legt Mängel in der EMAH-Versorgung offen

Wissenschaftlicher Name der Studie

Lack of specialist care is associated with increased morbidity and mortality in adult congenital heart disease: a population-based study

Ein Herzfehler ist die häufigste angeborene Fehlbildung. Große Fortschritte in der Medizin sorgen heute dafür, dass die Mehrheit der betroffenen Kinder überlebt und das Erwachsenenalter erreichen kann. Nach Schätzungen leben allein in Deutschland 300.000 Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern (EMAH). Vier Millionen sind es in Europa, und weltweit steigt ihre Zahl mit jedem Jahrzehnt um deutlich mehr als die Hälfte.

Ernste Grunderkrankung

Kindergarten, Schule, Studium, Beruf, Familiengründung, Freizeit- und Sportaktivitäten – oft ist selbst mit einem schweren angeborenen Herzfehler mehr möglich, als viele vermuten. Ein angeborener Herzfehler bleibt dennoch eine ernste Grunderkrankung, auch nach erfolgreicher chirurgischer oder interventioneller Korrektur. Viele Patienten müssen sich im Laufe ihres Lebens mit Folgeerkrankungen und Komplikationen auseinandersetzen, die nicht nur das Herz betreffen.

Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen, eine Myokarditis oder eine Endokarditis, Störungen der Lungenfunktion, aber auch Leber- und Nierenversagen sowie Schlaganfälle zählen zu den Risiken“, erklärt Professor Gerhard-Paul Diller, EMAH-Spezialist am Universitätsklinikum Münster (UKM). Zudem reagierten Menschen mit angeborenen Herzfehlern oft anders auf alterstypische Erkrankungen oder eine Schwangerschaft als herzgesunde Menschen. Eine dauerhafte spezialisierte Nachsorge und eine interdisziplinäre Vorgehensweise seien daher entscheidend, um Risiken abfedern und präventiv eingreifen zu können. Doch wie gut funktioniert das in Deutschland?

Hälfte der Patienten unzureichend versorgt

Mit Unterstützung durch das Nationale Register am Kompetenznetz Angeborene Herzfehler hat ein Forscherteam um den Kardiologen erstmals sowohl die Versorgungslage als auch die Erkrankungs- und Sterberisiken bei Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern untersucht. In Kooperation mit der Barmer GEK konnten die Wissenschaftler für die weltweit größte Studie ihrer Art auf die anonymisierten Daten sämtlicher ambulanten und stationären Maßnahmen und Diagnosen zurückgreifen, die im Zeitraum von 2005 bis 2019 durch die Barmer GEK kodiert wurden.

Für insgesamt 24.139 Erwachsene im Alter zwischen 18 und 70 Jahren mit nach ICD-Code erfassten leichten, mittelschweren und schweren angeborenen Herzfehlern ließen sich auf dieser Datengrundlage sowohl die medizinische Nachsorge als auch die Krankheitsverläufe nachvollziehen – mit alarmierendem Ergebnis. Zwar hatten die meisten EMAH-Patienten Kontakt mit einem Hausarzt. Entgegen der geltenden Leitlinien war jedoch die Hälfte der Patienten (rund 50 Prozent) während eines Zeitraums von drei Jahren an keine regelmäßige kardiologische Versorgung angeschlossen.

Hausärzte überweisen zu selten

Selbst bei mehr als einem Drittel (36 Prozent) der Patienten mit hochkomplexen Herzfehlern beschränkte sich die medizinische Versorgung auf die Hausarztpraxis. Aus Sicht der Wissenschaftler ist das hoch problematisch: „Das legt nahe, dass von der Möglichkeit der Überweisung an den Kardiologen zu wenig Gebrauch gemacht wird. Dabei ist aus der internationalen Studienlage seit langem bekannt, dass eine spezialisierte kardiologische Versorgung mit einem besseren Überleben und einer geringeren Rate an schwerwiegenden kardialen und neurologischen Komplikationen verbunden ist“, sagt Gerhard-Paul Diller.

Regelmäßiger Check beim EMAH-Kardiologen senkt Sterberisiko

Die Ergebnisse der Studie bestätigen das. Der Kardiologe wurde oft erst aufgesucht, wenn schwerwiegende Erkrankungen auftraten. Dabei zeigte sich vor allem bei Patienten über 45 sowie bei Patienten mit mittelschweren und schweren angeborenen Herzfehlern und ganz besonders auch bei Frauen, dass der regelmäßige Check beim Spezialisten das Risiko erheblich senkt, an einer Komplikation oder Folgeerkrankung zu versterben.

Aktuelle Leitlinien geben vor, dass alle erwachsenen Patienten mit angeborenen Herzfehlern (EMAHs) mindestens einmal einem EMAH-Kardiologen vorgestellt werden sollten und dass die Mehrzahl der Patienten der regelmäßigen Nachsorge durch entsprechend ausgebildete Kardiologen bedarf.

Strukturen ausbauen, Ärzte und Patienten sensibilisieren

Nach Studienergebnissen aus Australien und Kanada sind auch in Deutschland längst spezialisierte Einrichtungen sowie eine ergänzende Fortbildung zum EMAH-Kardiologen geschaffen worden. In derzeit 23 überregionale EMAH-Zentren, sechs EMAH-Schwerpunktkliniken und neun EMAH-Schwerpunktpraxen kümmern sich heute rund 350 Kardiologen und Kinderkardiologen mit Zusatzqualifikation um die wachsende Patientengruppe. Die Wissenschaftler empfehlen dringend, die Versorgungsstruktur auszuweiten. Angesichts der rasant steigenden Patientenzahl bestehe ein stetig wachsender Bedarf auch an zugänglichen, wohnortnahen spezialisierten Einrichtungen.

Zugleich gelte es, Hausärzte und Patienten stärker für die frühzeitige Überweisung an ambulante kardiologische Dienste zu sensibilisieren und die Zusammenarbeit gezielt zu fördern. „Auch wenn die kardiologische Nachsorge bei komplexeren angeborenen Herzfehlern besonders entscheidend ist, sollten Hausärzte grundsätzlich dazu ermutigt werden, für alle Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern mit entsprechend ausgebildeten Kardiologen zu kooperieren, um eine leitliniengerechte Behandlung sicher zu stellen“, rät Gerhard-Paul Diller.

  • Wissenschaftliche Details zur Studie

    EMAH-Sprechstunde beugt Risiken vor. © Wolfram Scheible für Nationales Register
    EMAH-Sprechstunde beugt Risiken vor.

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    Publikationen

    • 1.11.2021

      Lack of specialist care is associated with increased morbidity and mortality in adult congenital heart disease: a population-based study.

      Diller GP, Orwat S, Lammers AE, Radke RM, De-Torres-Alba F, Schmidt R, Marschall U, Bauer UM, Enders D, Bronstein L, Kaleschke G, Baumgartner H

      European heart journal 42, 41, 4241-4248, (2021). Diese Publikation bei PubMed anzeigen.

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