Gesundheit und Ernährung
Zu dick oder zu dünn?
Forscher warnen sowohl vor Übergewicht als auch vor Untergewicht bei angeborenem Herzfehler
„Das mag ich nicht!“ Eltern wissen, was jetzt kommt. Wenn ihre Schützlinge in staunenswerter Präzision Obst, Gemüse, Salat, Fisch,
et cetera – kurz: alles Vitamin- und Nährstoffreiche – auf dem Teller beiseiteschieben, wird es anstrengend. Für die Zubereitung gemeinsamer Mahlzeiten mit sorgsam ausgewählten saisonalen Zutaten findet sich im hektischen Alltag oft wenig Zeit. Und im Supermarkt locken zahlreiche schnell verfügbare Alternativen.
Das unterschätzte Gesundheitsrisiko
Besonders in der Wachstumsphase sei es entscheidend, dass der Körper ausreichend Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente bekommt, betont Ernährungsexpertin Professor Sigrid Hahn von der Hochschule Fulda. „Diese Nährstoffe sind sowohl für die gesunde Entwicklung von Knochen und Muskeln wichtig als auch für die geistige und soziale-emotionale Entwicklung und für die körpereigene Abwehr gegen Krankheitserreger.“ Doch genau hier liegt das Problem: „Die meisten Fertiggerichte und Industrieprodukte haben einen zu hohen Energiegehalt und bieten zu wenige dieser entscheidenden Nährstoffe, um eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten.“
Die Wucht der Wohlstandskrankheit
Zu süß, zu salzig, zu fett, und von allem zu viel. Das hat Folgen: Immer mehr Kinder und Jugendliche sind zu dick. Laut KiGGS-Studie haben in Deutschland 15,4 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 17 Jahren Übergewicht, rund 2 Millionen. 800.000 von ihnen, 5,9 Prozent, leiden unter Adipositas. „Der Fettanteil im Körper ist dann so hoch, dass er der Gesundheit dauerhaft gefährlich wird“, erläutert Professor Sigrid Hahn. Das habe vielfältige Ursachen. „Westliche Ernährungsgewohnheiten sind jedoch ein Schlüsselfaktor.“
Der unheilvolle Trend kommt uns alle teuer zu stehen: Zu den erheblichen gesundheitlichen Risiken gesellen sich soziale Nachteile. Aktuell schätzt die World Obesity Federation die volkswirtschaftlichen Kosten der damit verbundenen Gesundheits- und Sozialausgaben allein für Deutschland bis zum Jahr 2030 auf 127,2 Milliarden US-Dollar. Das entspricht ungefähr 114,5 Milliarden Euro und damit 2,66 Prozent des deutschen Bruttoinlandproduktes von 2024. Bis 2060 rechnet die internationale Fachorganisation mit jährlichen Kosten in Höhe von 250,7 Milliarden US-Dollar für Deutschland – rund 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Wie stark sind Kinder und Jugendliche mit angeborenem Herzfehler betroffen?
Expertinnen und Experten für angeborene Herzfehler macht diese Entwicklung seit längerem große Sorge. „Es herrscht dringender Handlungsbedarf“, sagt der Kinderkardiologe und Spezialist für Erwachsene Professor Jannos Siaplaouras, der mit seinem Kardioteam im hessischen Wölfersheim Patientinnen und Patienten aller Altersgruppen behandelt. „Viele unserer jungen Patienten haben kein normales Körpergewicht. Sie bewegen sich zu wenig und essen oft das Falsche. Hinzu kommen moderne Ernährungstrends, die viele Eltern und ihre Kinder verunsichern.“ Die Folgen dieser Fehlentwicklung sieht der Kinderkardiologe täglich in seiner Praxis.
„Bewegungsmangel und Fehlernährung bedeuten für Kinder und Jugendliche mit angeborenem Herzfehler ein deutlich erhöhtes Risiko für lebensbedrohliche Folgeerkrankungen und weitere Eingriffe bei zugleich stark beeinträchtigter Lebensqualität“, warnt auch Professor Christian Apitz, Leiter der Kinderkardiologie am Universitätsklinikum Ulm.
Erste repräsentative Studie zum Ernährungsverhalten bei angeborenen Herzfehlern
Jetzt haben Christian Apitz, Sigrid Hahn, Jannos Siaplaouras sowie der Diplompsychologe Paul Helm vom Nationalen Register für angeborene Herzfehler die Ergebnisse ihrer gemeinsamen Studie zum Ernährungsverhalten von Kindern und Jugendlichen mit angeborenem Herzfehler (AHF) vorgelegt. Die bundesweite E-BAHn-Studie ist die weltweit größte repräsentative Untersuchung zu diesem Thema.
Ein entscheidender Grund dafür: Forschung braucht genügend verlässliche Daten. Über diese verfügen einzelne Kliniken und Zentren nicht, weil das Spektrum angeborener Herzfehler zu breit ist. „Damit sind wir auf das Nationale Register angewiesen, das Daten aus vielen Kliniken, Zentren und Arztpraxen sammelt und für die Wissenschaft aufbereitet“, so Professor Christian Apitz. Eine solche Forschungsgrundlage entstehe auch nicht über Nacht. „Die hat das Nationale Register in mehr als zwanzig Jahren mühsam aufgebaut.“
Auf welcher Datengrundlage wurde geforscht?
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten medizinische Daten, Body-Mass-Index (BMI) und Umfrageergebnisse von 976 Teilnehmenden des Nationalen Registers im Alter zwischen sechs und 17 Jahren auswerten und mit den Daten Gleichaltriger aus der KiGGS-Studie vergleichen. Von den Studienteilnehmenden haben, nach Warnes, 23,8 Prozent einen leichten, 37,8 Prozent einen mittelschweren und 38,4 Prozent einen komplexen Herzfehler. Gut die Hälfte der in die Studie eingeschlossenen Kinder und Jugendlichen, 422 (47,2 Prozent), ist weiblichen Geschlechts.
Was kommt auf den Tisch?
Das Ergebnis hat die Forschenden in Teilen positiv überrascht. „Erstaunlich viele zeigten einen gesundheitsbewussten Umgang mit dem Essen. Fastfood und Zuckerhaltiges stehen bei Kindern und Jugendlichen mit angeborenen Herzfehlern deutlich seltener auf dem Speiseplan als bei herzgesunden Gleichaltrigen aus der KiGGS-Vergleichsgruppe“, berichtet Paul Helm.
Ein auffälliger Unterschied zeigte sich bei zuckerhaltigen Lebensmitteln. „Immerhin die Hälfte, 50 Prozent, der Kinder und Jugendlichen mit angeborenem Herzfehler gab an, diese nur selten zu sich zu nehmen, während bei der Mehrheit der gesunden KiGGS-Vergleichsgruppe mit 60,4 Prozent das Gegenteil der Fall war.“ Zugleich jedoch kämen frisches Obst, Gemüse, Salat und dergleichen wertvolle Nahrungsmittel bei jedem zweiten Studienteilnehmenden ähnlich wie in der KiGGS-Vergleichsgruppe zu kurz.

Mehr Übergewichtige unter Kindern mit leichtem angeborenem Herzfehler
Das scheint sich auch in den BMI-Daten widerzuspiegeln. Knapp 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit angeborenen Herzfehlern weisen kein Normalgewicht auf. „Das bleibt das alarmierende Ergebnis“, stellt Jannos Siaplaouras fest. Kinder und Jugendliche mit leichtem Herzfehler leiden dabei häufiger unter Übergewicht als ihre gesunden Altersgenossen.
„Gerade bei angeborenen Herzfehlern ist das hoch riskant“, warnt Christian Apitz. „Übergewicht im Kindesalter begünstigt Fettstoffwechselstörungen und Atherosklerose. Mit zunehmendem Alter machen sich dann schwere Stoffwechselerkrankungen, Schlaganfälle und Organschädigungen bemerkbar.“
Auffällig hohe Zahl an Untergewichtigen bei komplexen Herzfehlern
Sorge macht den Forschenden auch die auffällig hohe Zahl der untergewichtigen und schwer untergewichtigen Kinder und Jugendlichen mit angeborenem Herzfehler. Heranwachsende mit komplexen angeborenen Herzfehlern wiesen dabei den niedrigsten BMI auf. „Eine Mangelernährung führt bei schweren angeborenen Herzfehlern bereits im frühen Kindesalter zu höheren Komplikationsraten“, so Christian Apitz. Grundsätzlich schließen die Forschenden aus ihren Ergebnissen, dass bei angeborenen Herzfehlern noch sehr viel stärker auf den BMI und die Ernährungsgewohnheiten jedes Einzelnen geachtet werden muss.
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Gut zu wissen
Gesunde Ernährung entscheidet über Lebensqualität bei AHF
Eine ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung zählt neben ausreichender körperlicher Bewegung zu den wichtigsten Maßnahmen, um Krankheitsrisiken vorzubeugen, und das von klein auf. Denn eine mangelnde Versorgung mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen beeinträchtigt die Knochen- und Muskelentwicklung von Kindern und Jugendlichen ebenso wie ihre geistige und sozial-emotionale Entwicklung und ihre körpereigene Abwehr gegen Krankheitserreger. Für den Krankheitsverlauf bei angeborenen Herzfehlern ist das ein entscheidender Faktor.
Die Dauer der Erholung nach einem medizinischen Eingriff, das Auftreten von Folgeerkrankungen, die Notwendigkeit erneuter Eingriffe, die langfristige Lebensqualität – all das wird von der körperlichen Entwicklung der Kinder beeinflusst. Eine ausgewogene Ernährung ist daher von entscheidender Bedeutung, um Folgeerkrankungen und weiteren Gesundheitsproblemen bei Kindern und Jugendlichen mit angeborenem Herzfehler (AHF) vorzubeugen und eine möglichst hohe Lebensqualität zu sichern.
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Moderne Trends mit Tücken
Vegetarisch, vegan, glutenfrei, laktosearm, Paleo-Diät, Rohkost: Mit insgesamt 120 Teilnehmern gab etwa ein Siebtel aller befragten Kinder und Jugendlichen mit angeborenem Herzfehler an, sich besonders zu ernähren. „Patientinnen neigen deutlich häufiger zu solchen Ernährungsformen“, beobachtet Paul Helm.
Doch die sind oft nicht so gesund, wie sie versprechen, gibt Professor Sigrid Hahn zu bedenken: „Im Gegensatz zu einer ausgewogenen Ernährung können spezielle Diäten zu einem Mangel an wichtigen Nährstoffen führen. Das sehen wir vor allem bei untergewichtigen Kindern und Jugendlichen kritisch.“
Berücksichtigung bei allen Nachsorgeuntersuchungen
Die Ergebnisse der Studie sprechen aus Sicht der Forschenden dafür, diese Aspekte in die Untersuchungsroutine zu integrieren und die Patientinnen und Patienten sowohl zu einem körperlich aktiven Lebensstil als auch zu einer gesunden Ernährung zu motivieren, z.B. auch durch eine gezielte individuelle Ernährungsberatung. Letztere wird in vielen Fällen von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen oder bezuschusst, wenn sie ärztlich verordnet und medizinisch notwendig ist.
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Wissenschaftliche Details zur Studie
Erfahren Sie mehr zum Studiendesign, den Materialien und Methoden, sowie zu den Hintergründen der Studie:
Publikationen
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19.10.2024
Trends in Nutritional Status and Dietary Behavior in School-Aged Children with Congenital Heart Defects.
Tobias D, Helm PC, Bauer UMM, Niessner C, Hahn S, Siaplaouras J, Apitz C
Children (Basel, Switzerland) 11, 10, (2024). Diese Publikation bei PubMed anzeigen.
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