Der Kinderkardiologe Dr. med. Arnulf Boysen aus Karlsruhe, Nationales Register | Karolina Sobel © Nationales Register | Karolina Sobel

Herzerforscher-Magazin | Arzttermin

„So etwas vergisst man nicht.“

Im Interview: Dr. med. Arnulf Boysen, Kinderkardiologe aus Karlsruhe

Fast alle Patienten von Arnulf Boysen nehmen am Nationalen Register teil. Die meisten von ihnen kennt der in Karlsruhe niedergelassene Arzt von klein auf. Kinderkardiologe ist Arnulf Boysen durch ein prägendes Erlebnis geworden. Es begann mit einem Ultraschallgerät im Süden des Kosovo. Wir haben Arnulf Boysen am Abend in seiner Praxis erreicht.

Herzerforscher-Redaktion: Herr Dr. Boysen, wie geht es einem Arzt nach einem langen Arbeitstag?

Arnulf Boysen: Danke, gut. Der Tag war entspannt. Alles reibungslos. Nette Patienten!

Herzerforscher-Redaktion:  Sie haben eine Schwerpunktpraxis für angeborene Herzfehler. Wer kommt zu Ihnen?

Arnulf Boysen: Ich bin in der Ambulanz tätig. Das heißt, es kommen Patienten zu mir, die entweder vom Hausarzt oder vom Kinderarzt geschickt werden. In der Regel geht es darum, eine Herzerkrankung auszuschießen. Meistens ist ein Herzgeräusch aufgefallen, vielleicht hatte ein Säugling blaue Lippen und dann ist die Frage: Hat das einen ernsteren Hintergrund, ja oder nein? Und dann gibt es einen kleineren Teil mit ernsten Herzerkrankungen. Die Patienten kommen dann meistens aus dem Klinikum, sind bereits operiert worden und bedürfen einer entsprechenden Nachsorge oder stehen kurz vor der Operation.

Arnulf Boysen im Gespräch mit einem jungen Patienten © Nationales Register | Karolina Sobel
Arnulf Boysen im Gespräch mit einem jungen Patienten

Herzerforscher-Redaktion:  Dann begleiten Sie sicher viele Ihrer Patienten von klein auf bis ins Erwachsenenalter?

Arnulf Boysen: Ja, das ist so. Das ist ein schöner Aspekt der Kinderheilkunde, dass man die Patienten durch all diese Lebensphasen begleiten kann, in denen so viel passiert. Ich habe Patienten, die sind jetzt um die zwanzig, die habe ich als Säugling schon gesehen. Daran sieht man natürlich auch, wie alt man selbst geworden ist (lacht). Aber es ist schön, die Entwicklung der Patienten über einen so langen Zeitraum verfolgen zu können.

Wir standen mit dem Rücken zur Wand.

Herzerforscher-Redaktion: Kommt es auch vor, dass Sie sagen: Meine Güte, mit der Diagnose, das hätte ich jetzt nicht gedacht, dass die oder der so fit ist.

Arnulf Boysen: Ja! Ich hatte so ein Erlebnis gerade vor drei Monaten. Die kleine Patientin war zu früh zur Welt gekommen mit einer hochgradig verengten Aortenklappe. Und eigentlich sah niemand von uns eine Chance, dass sie es bis zur Operation schafft. Der Blutstrom aus dem linken Herzen war derart blockiert, dass das linke Herz den ständigen Druck nicht ausgehalten hat. Die Muskulatur hatte sich dann so „umgebaut“, dass nichts mehr ging. Und nicht bloß das. Im Endeffekt hatte sie nur noch die rechte Herzkammer, um den ganzen Kreislauf in Gang zu halten, und auch die war überfordert. Solche schweren angeborenen Herzfehler sehen wir zum Glück äußerst selten. Wir standen mit dem Rücken zur Wand. Man konnte operativ gar nichts machen. Zwei Herzkammern, die nicht funktionieren, das geht nicht.

Herzerforscher-Redaktion: Was bleibt einem in so einem Fall noch an medizinischen Möglichkeiten?

Arnulf Boysen: Wir haben einfach nur warten und das kleine Mädchen mit Sauerstoff versorgen, sie künstlich ernähren und weitestgehend medikamentös unterstützen können. Wir haben uns ihr Herz in regelmäßigen Abständen angeschaut, von Mal zu Mal auf eine Verbesserung gehofft, aber es tat sich nichts. Und plötzlich – Zack! - mit einem Mal setzte ein Erholungsprozess ein und schließlich konnte die große Operation tatsächlich stattfinden. Es hat alles geklappt und danach kam ein pausbäckiges fröhliches Kind in meine Praxis, mit Haaren auf dem Kopf, das keine Magensonde mehr braucht. Das sind ganz, ganz emotionale, tolle Momente, für die Eltern, aber auch für mich, der ich das als Therapeut erleben darf.

Das sieht gut aus! Arnulf Boysen untersucht einen Patienten per Ulraschall. © Nationales Register | Karolina Sobel
Das sieht gut aus! Arnulf Boysen untersucht einen Patienten per Ulraschall.

Herzerforscher-Redaktion: Da kriegt man schon vom Zuhören Gänsehaut vor Freude. Wie sind Sie zur Kinderkardiologie gekommen?

Arnulf Boysen: Das kam relativ zufällig. Ich war als junger Arzt für ein internationales Hilfsprogramm im Südkosovo. Das war nach meiner pädiatrischen und intensivmedizinischen Ausbildung. Wir haben dort kurz nach dem Bürgerkrieg an Kliniken hospitiert, uns den Arbeitsalltag vor Ort angeschaut und versucht, das eine oder andere an Ideen mit einzubringen. Und dort am Krankenhaus in Prizren gab es ein Ultraschallgerät, wir hatten auch herzkranke Kinder. Aber ich konnte das Gerät nicht bedienen. Das hat mich so frustriert, dass ich mir gesagt habe: „Sobald ich nach Deutschland zurückkomme, werde ich das lernen“. Und das habe ich dann gemacht. Und irgendwie hat der Chef der Kardiologie am Stuttgarter Klinikum das mitbekommen und mich gefragt, ob ich Interesse hätte, das weiter fortzuführen. Und schwupp, war ich auf einmal in der Kinderkardiologie gelandet. Also absoluter Zufall! Aber ich habe diese Entscheidung nie bereut.

Das sind drastische Bilder, die sich da einbrennen.

Herzerforscher-Redaktion: Sie waren unmittelbar nach dem Krieg in Kosovo? Hatten Sie vor Ort dann nicht mit vielen schwer traumatisierten Kindern zu tun?

Arnulf Boysen: Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen waren traumatisiert. Wir waren zum Beispiel, daran kann ich mich noch gut erinnern, in einem Waisenhaus, in dem serbische Kinder untergebracht waren, die im Kosovo auf einmal zur Minderheit geworden waren. Es gab viele vergewaltigte Frauen, die schwanger geworden waren. Keiner wollte diese Kinder haben. Sie mussten dann in diesem Heim unter extrem schwierigen Bedingungen ausharren. Also das sind extrem belastende Verhältnisse für die Menschen gewesen im Zuge der Kriegswirren.

Herzerforscher-Redaktion: Wir kennen solche furchtbaren Situationen in Deutschland glücklicherweise seit Generationen nicht mehr. So etwas mitzuerleben, was macht das mit einem, auch unmittelbar in so einer Situation vor Ort?

Arnulf Boysen: Also, das beeindruckt schon ein Leben lang, so was bleibt hängen, das vergisst man nicht. Das sind drastische Bilder, die sich da einbrennen. Und es stimuliert einen auch, unbedingt etwas tun zu wollen. In dem Moment selbst versucht man nur zu helfen, wo man kann, und wirklich alles zu geben! Man hat ja keine Möglichkeiten, die Situation zu ändern. Sie können sich vorstellen, gerade in so einem Konflikt ist die Situation zwischen den Menschen so angespannt, das geht auch im Krankenhaus weiter, das hört da nicht auf. Und da ist man als Außenstehender, als praktisch Unbeteiligter noch am einfachsten in der Lage, Brücken zu schlagen, indem man Menschlichkeit vorlebt und zeigt, dass die Nationalitätenfrage für einen selbst keine Rolle spielt.

„Dieses ganze traurig-angespannte, das war weg.“

Herzerforscher-Redaktion: Waren Sie noch einmal dort?

Arnulf Boysen: Ich war tatsächlich gerade noch einmal im Kosovo. Das war spannend. Man macht ja häufig solche Projekte und dann ist man wieder weg. Und es war sehr interessant, 17 Jahre später noch einmal dort hinzufahren und zu schauen, wie sich das entwickelt hat.

Herzerforscher-Redaktion: Gab es etwas, das Sie überrascht hat?

Arnulf Boysen: Überrascht hat mich die Normalität des Alltags. Damals hatten wir eine Ausgangssperre und überall waren Soldaten und Panzer zu sehen. Das Bild hatte sich jetzt vollkommen ausgetauscht gegen eine junge Bevölkerung auf den Straßen. Überall war ganz viel Leben und Freundlichkeit, auch Fröhlichkeit. Dieses ganze traurig-angespannte, das war weg. Und das war auch bei den Kollegen im Krankenhaus so. Vom medizinischen Versorgungsstand her betrachtet, gibt es allerdings immer noch immense Schwierigkeiten. Das hat sich nicht wesentlich verbessert. Die medizinische Ausstattung ist sehr schlecht. Das ist nicht vergleichbar mit einer medizinischen Versorgung wie wir sie hier kennen.

Arnulf Boysen kontrolliert einen Befund © Nationales Register | Karolina Sobel
Arnulf Boysen kontrolliert einen Befund

Die Forschung hat ohne Frage einen Anteil daran.

Herzerforscher-Redaktion: Für die medizinische Versorgung hierzulande sind sicher viele Ihrer Patienten grundsätzlich sehr dankbar. Es heißt, dass die Früherkennung eines angeborenen Herzfehlers eine zentrale Rolle für die Prognose der Patienten spielt. Wie sehen Ihre Erfahrungen damit aus? Wie früh werden angeborene Herzfehler heute erkannt?

Arnulf Boysen: Die meisten schwerwiegenden Herzfehler werden heute spätestens kurz nach der Geburt festgestellt. Ich erlebe es inzwischen extrem selten, dass ich einen schweren Herzfehler entdecke, nachdem die Eltern mit einem vermeintlich gesunden Kind aus der Geburtsklinik nach Hause entlassen worden sind. Das Auge dafür hat sich heute so verbessert, die Kollegen sind heutzutage so geschult darin, das rechtzeitig zu erkennen. Ich könnte das jetzt nicht genau mit Zahlen belegen, aber ich denke, die Versorgung hat sich merklich verbessert, wenn man die vergangenen zehn bis zwanzig Jahre zurückblickt.

Herzerforscher-Redaktion: Das hängt vermutlich auch mit der Forschung zusammen.

Arnulf Boysen: Die Forschung hat ohne Frage einen Anteil daran. Hinzu kommt, dass heute mehr Kinderkardiologen tätig sind, auch in ganz kleinen Krankenhäusern. Das ist auch eine positive Entwicklung, dass inzwischen immer mehr Leute in diesem Fach nachfolgen, eine gute Ausbildung absolvieren. Und es gibt hervorragende Ultraschallgeräte heute, so dass auch viele kleinere Kliniken in der Diagnostik nachziehen konnten. Die müssen die Patienten dann nicht erst in die nächste Uniklinik schicken, sondern haben jemanden im Haus, der das schon oft gesehen hat, der erfahren ist und weiß, was zu tun ist – das ist ja immer eine Hürde, einen Patienten erst noch transportieren zu müssen.

Noch zu Beginn der siebziger Jahre konnte man fast gar keinen angeborenen Herzfehler behandeln.

Herzerforscher-Redaktion: Dass die meisten Patienten heute dank verbesserter OP-Verfahren selbst schwere angeborene Herzfehler überleben, ist ja auch noch nicht so lange eine Selbstverständlichkeit.

Arnulf Boysen: Genau. Bei schweren Herzfehlern wie dem hypoplastischen Linksherzsyndrom, also einem zu kleinen linken Herz, da hatte man früher gar keine Chance. Als ich angefangen habe, ging es gerade damit los, dass man das überhaupt operieren konnte. Vorher hat man den Eltern noch mitteilen müssen: Tut uns leid, wir können nichts machen, ihr Kind wird sterben. Und noch zu Beginn der siebziger Jahre konnte man fast gar keinen angeborenen Herzfehler behandeln.

Herzerforscher-Redaktion: Viele Ihrer Patienten haben sich im Nationalen Register angemeldet und tragen mit ihren Daten zur Forschung bei.

Arnulf Boysen: Fast alle meine Patienten haben sich für die Teilnahme entschieden. Das finde ich sehr erfreulich. Das Forschungsfeld ist ja noch ganz neu. Wie künftig etwa ein 70-jähriger Patient mit einem schweren Herzfehler nach einer Fontan-Operation leben wird, lässt sich heute kaum beantworten, weil wir den einfach noch nie gesehen haben bisher. Und da hilft uns einfach alles weiter, was man an Informationen zusammentragen kann. Ein einzelner Arzt gewinnt zwar im Laufe seiner Tätigkeit viel Erfahrung und ein Gefühl dafür, was im Einzelfall zu tun ist, aber verlässliche Anhaltspunkte für Diagnose und Behandlung kommen nur zustande, indem man langfristig die Krankheitsverläufe von möglichst vielen Patienten nachverfolgt und guckt, was entstehen für Komplikationen, wann entstehen die Komplikationen, was ist auf Dauer zu erwarten? Und das gibt dann den Anstoß für neue Therapiemöglichkeiten. Manches wird man vermutlich überhaupt erst in 30 oder 40 Jahren entdecken und dann vielleicht auch feststellen, Oh, Mensch, da haben wir etwas falsch gemacht, das sieht ganz anders aus, als wir dachten.

Was bringt der Tag? Arnulf Boysen in der Besprechung mit den Praxismitarbeiterinnen. © Nationales Register | Karolina Sobel
Was bringt der Tag? Arnulf Boysen in der Besprechung mit den Praxismitarbeiterinnen.

„Heute weiß man dank der Forschung, dass nur ein ganz kleiner Teil der Patienten vorsorglich mit Antibiotika behandelt werden muss.“

Herzerforscher-Redaktion: Solche Aha-Erlebnisse gab es wahrscheinlich schon?

Arnulf Boysen: Ja, in Sachen Endokarditis-Prophylaxe zum Beispiel. Lange Zeit haben viele Patienten mit angeborenen Herzfehlern vorsorglich ein Antibiotikum bekommen. Das Risiko, an einer Endokarditis zu erkranken, ist im Zusammenhang mit angeborenen Herzfehlern durchaus ein ernstes Thema. Als man dann erstmals untersuchen konnte, wie effektiv diese vorsorgliche Antibiotikagabe für Menschen mit einem angeborenen Herzfehler ist, musste man feststellen, dass die Prophylaxe in vielen Fällen mehr schadet als nützt. Heute weiß man dank der Forschung, dass nur ein ganz kleiner Teil der Patienten mit einem besonderen angeborenen Herzfehler vorsorglich mit Antibiotika behandelt werden muss.

Herzerforscher-Redaktion: Aus Ihrer Praxis heraus, was wären derzeit Forschungsfragen, denen Sie dringend auf den Grund gehen wollten?

Arnulf Boysen: Ich denke Bluthochdruck bei Kindern wäre so ein Thema. Schätzen wir das wirklich richtig ein? Haben wir zu viel Angst, zu wenig Angst? Ich habe den Eindruck, wir neigen hier derzeit ein bisschen zur Übertherapie. Ich denke dabei an die EKG-Auswertung bei Kindern, an die verlängerten QT-Zeiten. Wenn die Werte nicht eindeutig sind, machen wir den Eltern dann möglicherweise zu viel Angst? Schauen wir zu viel, zu genau nach? Das sind Fragen, die man wahrscheinlich erst mit einem größeren Abstand auf breiterer Datengrundlage beantworten kann.

Herzerforscher-Redaktion: Wie viele Ihrer jungen Patienten sind von Bluthochdruck betroffen?

Arnulf Boysen: Ich kann es ad hoc nicht genau sagen. Es sind vielleicht ein paar hundert inzwischen, die mit Bluthochdruck bzw. mit grenzwertigen oder leicht verlängerten QT-Zeiten hier in Behandlung sind.

Herzerforscher-Redaktion: So viele?

Arnulf Boysen: Bluthochdruck begegnet uns heute häufiger als noch vor 20 Jahren. Das wird derzeit viel besprochen im Kollegenkreis. Der Wert wird inzwischen auch systematischer gemessen, dadurch fällt uns das möglicherweise noch stärker auf. Und unser Lebensstil hat sich verändert, wir haben heute sehr viel mehr übergewichtige Patienten. Das spielt da natürlich mit hinein.

Manche Fragen werden sich auch durch ein Land alleine kaum beantworten lassen.

Herzerforscher-Redaktion: Auch bei so einem Thema ist die Registerforschung sicherlich sinnvoll?

Arnulf Boysen: Das muss sicher bei den meisten Forschungsfragen der Weg sein. Ohne breite Datenbasis schafft man es nicht, zu vernünftigen Ergebnissen und entsprechenden Leitlinien für die Behandlung zu kommen. Und manches wird sich auch durch ein Land alleine kaum beantworten lassen. Da braucht es wirklich eine internationale Community, die Daten beisteuert, gerade wenn es ganz, ganz seltene Krankheitsbilder sind und die Patientenzahlen entsprechend niedrig ausfallen. Die Idee ein solches Register aufzubauen, war eigentlich überfällig und ich ziehe wirklich meinen Hut davor, dass das schließlich in die Hand genommen wurde und gelungen ist.

Herzerforscher-Redaktion: Herr Dr. Boysen, wir danken Ihnen für das Gespräch.


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